Wie man Pferde einfängt

… und was wirklich zählt!

Die Geschichte eines Hengstes, der sich von seiner Besitzerin nicht fangen lassen will.

Sie war immer eine derjenigen gewesen, deren Wünsche alle erfüllt wurden, inklusive des Medizinstudienplatzes. Aber nun war irgendwie alles anders. Sie stand am Weidetor und sah in die Ferne. Am anderen Ende der Weide graste ihr neuer Nachwuchshengst, ein Rabe saß auf seiner Kruppe und schwankte bei jedem seiner Schritte. Sie stand nur am Weidetor und wartete.

Er hob nicht mal den Kopf, als sie ihn rief. Aber an seinem Ohrenspiel konnte man erkennen, dass er sie durchaus bemerkt hatte.

Und sie wusste genau, wenn sie das Tor öffnen und auf ihn zugehen würde, dann würde er sich abwenden, zunächst gemächlich, im Notfall jedoch mit blitzschnellen Bewegungen.

Er sah toll aus, wenn er sich in Gang setzte. Sein Fell glänzte in der Sonne und seine Bewegungen waren schwungvoll. In der Box konnte sie ihn problemlos aufhalftern, dort stand er höflich und unbeweglich still.

Aber sobald er auf der Weide war, kam sie nicht mehr in seine Nähe. Dabei hatte er hier alles, er stand sogar mit einem alten Wallach zusammen auf der Weide. Er sollte sich verdammt nochmal einfangen lassen.

Aber jetzt trug er nur diesen Vogel durch die Gegend und spielte mit ihr. Das Halfter in der Hand, öffnete sie das Tor und nährte sich ihm.

Er ließ sie auf zwei Meter heran, lief langsam ein paar Schritte weiter, den Kopf gesenkt, als hätte er sie noch immer nicht gesehen. Der alte Wallach stupste sie von hinten an.

Sie streichelte ihm kurz über die Stirn, dann ging sie weiter. Ihr Pferd war stehen geblieben, zupfte weiter am kurz gefressenen Gras. Hallo, sprach sie ihn an, kommst du jetzt mit mir mit?

Als sie den Widerrist berührte, wandte er sich auf der Stelle ab.

Er drehte ihr den Kopf zu, wartete. Sie durfte sogar sein Fell berühren, aber als sie sich bis auf die Höhe des Widerristes vorgearbeitet hatte, zuckte er plötzlich zusammen, als hätte er einen Stromschlag bekommen, und machte auf der Stelle kehrt.

Sie wollte ihm entnervt das Halfter hinterherwerfen, hielt dann aber inne. Dann eben nicht, rief sie ihm hinterher.

Es war jeden Tag dasselbe. Zu zweit konnten sie ihn meistens aufhalftern.

Dann würde sie halt den alten Ben fragen. Vom dem ließ er sich auch immer einfangen. Aber der wollte ihn ja auch nicht reiten.

Das hatte ihr alles gerade noch gefehlt. Sie hatte genug Stress, das Studium war schwerer als sie es sich vorgestellt hatte.

Obwohl, was heißt schon schwer, es war endloses Auswendiglernen. Und jetzt wusste sie nicht mehr, ob sie das alles überhaupt wollte. Ihr Vater sagte durchziehen.

Aber manchmal hatte sie gar keine Zeit mehr sich mit ihren Freunden zu treffen. Ihr Pferd war sechs, im Winter aus Island importiert und sollte mal ganz groß rauskommen.

Der Nachwuchshengst schlechthin. Ihr Vater hatte ihn ihr nach dem Abi geschenkt, sie waren zusammen nach Island gefahren, die ganze Familie. Aber seitdem er hier war, klappte nichts.

Sie lief den Weg zur Reiterstube zurück. Ben, sie lächelte ihn an, ich brauche deine Hilfe. Er stand auf, blinzelte in die Sonne. Bei der Hitze wollt ihr arbeiten?

Der alte Ben konnte ihn immer fangen.

Hinter seinem Grinsen konnte man viele Zahnlücken sehen, aber sein Lachen war warm. Natürlich, wenn er auf der Weide laufen kann, kann er das auch unter dem Sattel, empörte sie sich. Mädchen, was machst du denn immer mit dem Guten?

Bens Schritte waren langsam, aber als er nach ihm rief, war es, als würde ihr Pferd sich Schritt für Schritt nähern.

Ben hielt ihm seine Hand hin, ließ ihn schnuppern und kraulte ihn dann unter dem Schopf.

Du hast geschwitzt, was Großer? fragte er. Es ist auch viel zu heiß heute. Er strich sich über die Stirn. Das Pferd ließ sich problemlos aufhalftern.

Es wäre wohl immer so weitergegangen, bis sie ganz die Lust verloren hätte und dann wäre ein neues Pferd gekommen.

Aber obwohl er nicht immer so kooperativ beim Reiten war, nahm sie ihn dann doch zu einem Turnier mit. Es war Spätsommer, den ganzen Tag über war es schwül, er war erstaunlich ruhig, aber wahrscheinlich hatte er nur keine Energie um sich aufzuregen.

Mittags begannen sich am Horizont die Wolken zu ballen, in der Ferne grollte der Donner, aber es blieb ruhig. Nachmittags war dann der Futurity Fünfgang der sechsjährigen Pferde und gerade als sie abgeritten hatte, begann dieses Gewitter.

Es begann so plötzlich zu schütten, vielleicht hatte sie es auch einfach nicht mitbekommen vor Konzentration oder Anspannung.

Und mit dem Regen begann auch der Sturm. Die Richterzelte hielten ihm genau zwei Minuten stand. Sie hörte nicht mehr, wie der Sprecher die Prüfungen unterbrach.

Sie hörte auch nicht mehr die Rufe der Richter und Zuschauer, das Gebell der Hunde. Sie sah nur noch das blaue Zelt, das sich auf sie zubewegte. Verdammt, sie kamen hier nicht mehr rechtzeitig weg…

Ihr Pferd zitterte unter ihr, rechts war der Ovalbahnzaun, solides Holz. Sie wollte ihn vorwärtstreiben, er reagierte nicht.

Die Verbindung zwischen der jungen Frau und ihrem Hengst wurde immer stärker.

Das Zelt knallte direkt vor ihnen gegen den Zaun, das Gestänge verhakte sich im Zaun, der blaue Stoff ratterte im Wind.

Ihr Pferd schnaubte, wich zurück, sie fühlte wie es bebte, nach rechts ausbrechen wollte, sie versuchte ihn vom Zaun wegzulenken. Ruhig, sagte sie, aber ihre Stimme war alles andere als ruhig.

Er drehte ihr ein Ohr zu. Und obwohl er so sehr unter Spannung stand und nichts anderes wollte als fortzurennen, blieb er stehen.

Sie spürte den Regen auf ihrer Haut, wie weich ihre Knie auf einmal waren. Sie stieg ab, streichelte ihm vorsichtig über den Hals.

Dann umarmte sie ihn, er war durchnässt, sie war durchnässt und er ließ sich umarmen. Du bist wirklich ein tolles Pferd, sagte sie, und dieses eine Mal meinte sie das auch.

Sie sprach nicht von seiner Gangveranlagung oder seiner Qualität. Sie sprach nicht von seiner Abstammung und sie sagte es auch nur zu ihm.

Das hast du toll gemacht, Großer, sagte sie. Das hast du genau richtig gemacht. Und am nächsten Tag, in der Futurity Töltprüfung, da spürte sie ihn, und er hörte ihr zu.

Vielleicht gab es noch ein paar Tage, an denen er sich nicht gleich einfangen ließ, ein wenig Spaß muss ja sein, aber oft kam er nun, wenn sie am Tor stand und seinen Namen rief.

Sie respektierte ihn jetzt. Und obwohl sie manchmal Blicke zugeworfen bekam, weil ihr Pferd nicht immer so funktionierte, wie ein perfektes Pferd zu funktionieren hatte, obwohl sie nicht mehr immer so konsequent war, wie sie es im Unterricht gelernt hatte, wurden sie besser und besser.

Und was noch viel wichtiger war: Sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, wenn es darauf ankam!-

Gwendolyn Simper

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